Driving Alone

Steve Binetti

Binetti sagt über seine Musik: „Ich singe meine Texte, spiele meine Gitarre und stampfe mit dem Fuß!“, Music Video: Action Film

Der singende Randgänger der deutschen Kulturszene

Wenn man heute über die Musik- und Theaterlandschaft Deutschlands spricht, führt kaum ein Weg an einem Namen vorbei, der zugleich präsent wie schwer zu fassen ist: Steve Binetti. Geboren 1966 in Ostberlin als Stefan Bieniek, bewegt sich der Musiker, Komponist und Maler seit vier Jahrzehnten durch die Ränder und Zwischenräume der deutschen Kulturlandschaft. Seine Biografie liest sich wie ein Spiegel widerstrebender Systeme, innerer Brückenbauten, klanglicher Verschiebungen und gelebter Grenzüberschreitungen.

Schon in jungen Jahren verliebt sich Binetti in die Gitarre. Der ostdeutsche Alltag der 1980er Jahre ist für ihn kein Hindernis, sondern ein Ausgangspunkt. Bands wie Hard Pop, This Pop Generation und B.R.O.N.X. sind erste Versuchslabore für eine Musik, die mehr sein will als Unterhaltung. In dieser Zeit wird klar: Binetti ist kein Diener der Szene, sondern ein Suchender, ein Erfinder. Ein Musiker, der seine psychischen Zustände, seine Beobachtungen und seine Melancholie in Klang übersetzt.

Nach dem Mauerfall arbeitet er als Tellerwäscher, malt, musiziert, lebt. Doch der Umbruch, der andere in Verwirrung stürzt, wird für Binetti zum Sprungbrett. 1991 begegnet er dem Regisseur Frank Castorf, der ihn an die Volksbühne Berlin holt. Diese Zusammenarbeit sollte das Werk beider prägen. Castorf – von 1992 bis 2017 Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz – machte die Bühne zum Ort einer neuen Theatersprache. Binetti wurde sein musikalischer Komplize.

Was folgt, ist ein Kapitel Theatergeschichte: „Clockwork Orange“, „Fruen fra Havet“, „Terrordrom“, „Im Dickicht der Städte“ – Produktionen, die zu Legenden werden, nicht zuletzt wegen Binetti, der mit seiner E-Gitarre auf der Bühne steht, improvisiert, durchdringt, kommentiert. Neben Castorf-Produktionen arbeitete er auch mit Sebastian Hartmann, Arek Smiegiel und weiteren namhaften Regisseuren.

Theatermusik als Ausdrucksform

Binetti ist kein klassischer Theatermusiker. Er tritt nicht zurück, um Schauspiel und Regie Raum zu geben. Vielmehr versteht er Musik als narrative Ebene, als Kontrapunkt und Spiegelung. Seine Kompositionen sind keine Untermalung, sie sind eigenständige ästhetische Setzungen. Sie irritieren, sie verzaubern, sie tragen Inszenierungen in unbekannte Gefilde. Das macht ihn zu einem der gefragtesten Komponisten im deutschsprachigen Theaterbetrieb.

Er steht mit Deutschlands großen Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne: Corinna Harfouch, Henry Hübchen, Herbert Fritsch, Jeanette Spassova, Heike Makatsch. Letztere trat mit ihm im Stück Paris, Texas auf, das Wim Wenders persönlich besuchte.

Internationale Gastspiele führen ihn nach Frankreich, Dänemark, aber auch nach Brasilien: São Paulo, Salvador, Fortaleza, Guaramiranga, begleitet von Goethe-Institut und dem deutschen Auswärtigen Amt. Auch in Paris, Kopenhagen und überall in Deutschland ist seine Musik auf Theaterbühnen zu hören.

Ein Sound zwischen Renaissance, Blues und Freier Musik

Musikalisch ist Binetti ein Solitär. Er kennt keine stilistischen Dogmen. Seine Solo-Alben wie Driving Alone oder Thicketklingen wie vertonte Tagebucheinträge. Mal lakonisch, mal hymnisch, immer tief empfunden. Seine Gitarre erinnert an Jimi Hendrix, sein Gesang an einen spätmodernen Troubadour. Kein Wunder, dass ihn die Berliner Presse einmal den „Lord of Guitar“ nannte.

Und doch ist Binetti viel mehr als ein Gitarrenvirtuose. Er ist ein Klangautor. Jedes Stück, das er schreibt, ist wie ein literarischer Text. Man hört Sätze aus Ton, Phrasen aus Verzerrung, Pausen mit Bedeutung. Seine Musik fordert und verweigert sich gleichzeitig jeder Vereinnahmung.

Ein Netzwerk der Gegenkultur

Seit frühen Jahren arbeitete Binetti mit Musikern wie Paul Landers, Christoph Schneider und Christian Lorenz – später Gründungsmitglieder der weltberühmten Band Rammstein. In der ostdeutschen Undergroundszene entstanden in jenen Jahren Verbindungen, die bis heute nachwirken.

Er trat gemeinsam mit Joe Strummer (The Clash) und The Pogues in Berlin auf und spielte in zahlreichen Projekten mit bekannten Jazz- und Rockmusikern wie Conrad Bauer, Peter Hollinger, Frank Neumeier und Steven Garling.

Maler und Musiker – zwei Ausdrucksweisen derselben Energie

Parallel zur Musik bleibt die Malerei ein zentraler Bestandteil seines Schaffens. Schon in den späten 1980er Jahren teilt er sich ein Atelier im Prenzlauer Berg mit dem Maler Jens Hausmann. Nach einer intensiven musikalischen Phase kehrt Binetti ab 2010 verstärkt zur Bildenden Kunst zurück. Seine Ausstellungen in Berliner Galerien zeigen expressive, emotionale Werke, die sich formal zwischen Symbolismus, Expressionismus und Pop-Art bewegen. Es sind dieselben Themen, die ihn musikalisch bewegen: Innenwelten, Zerbrechlichkeit, Aufbegehren.

The Future Days und die Rückkehr zur Bandkultur

Mit Steven Garling (Schlagzeug) und Lexa Schäfer (Bass) gründet Binetti die Band The Future Days. Was als Live-Vertonung von Stummfilmen beginnt, entwickelt sich zur eigenständigen Rockformation. Konzerte, CD-Veröffentlichungen, internationale Auftritte: „The Future Days“ sind Binetti pur. Ihre Musik knüpft an seine Theaterarbeit an, führt sie aber in den Club, in die Straße, in den Alltag.

Ein Leben für die Kunst, jenseits von Karriere

In Interviews zeigt sich Binetti als reflektierter, bisweilen sarkastischer Beobachter der Kulturbranche. Seine Facebook-Posts sind mal lyrisch, mal bitter, mal komisch. Er spricht offen über die Prekarität des Musikerlebens, über Wertschätzung, die ausbleibt, über Theaterhonorare, Streaming-Einnahmen und die Zumutungen eines Systems, das Kreativität fordert, aber selten honoriert.

Und dennoch: Binetti macht weiter. Weil er es muss. Weil es keine Alternative gibt. „Ich kann nichts anderes“, sagt er in einem Interview. „Ich muss Musik machen.“

Fazit: Der leise Pionier

Steve Binetti ist kein Popstar. Er ist kein Medienphänomen. Aber er ist eine der prägnantesten Figuren des deutschen Undergrounds, ein künstlerischer Grenzgänger zwischen Musik, Theater und Malerei. Seine Werke sind Spuren einer kompromisslosen Biografie. Sie handeln von Einsamkeit und Widerstand, von urbaner Melancholie und klanglicher Wut.

Wer seine Musik hört, seine Bilder sieht oder ihn auf der Theaterbühne erlebt hat, vergisst ihn nicht. Steve Binetti ist ein Gesamtkunstwerk. Und in einer Zeit, in der vieles glatt und kalkuliert erscheint, ist das vielleicht sein größter Wert: Er bleibt echt. Er bleibt bei sich. Und das ist selten genug.


Chronologie: Steve Binetti




Bands & Musikprojekte




Theaterproduktionen (Auswahl)




Filmmusik / Soundtracks




Veröffentlichungen (Auswahl)